Bedarf – eine Begriffsbestimmung

Allenthalben wird in Bezug auf die Stadtentwicklung von Wolfenbüttel von einem dringenden Wohnungsbedarf gesprochen. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff und wie ermittelt die Verwaltung den Bedarf für die Stadt?

 

Den öffentlichen Äußerungen von Herrn Lukanic zufolge stützt sich die Verwaltung auf drei Quellen, um den Wohnungsbedarf zu ermittelten:

 

  1. „Das Baugebiet ‚Östlich Fallsteinweg‘ ist schon dreifach überzeichnet“. Diese Aussage, gefolgt von der Forderung nach einer weiteren Ausweisung von Bauland, konnte man mehrfach zu einem Zeitpunkt hören, an dem die offizielle Vermarktung der betreffenden Bauflächen noch gar nicht begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt gab es lediglich Listen, auf denen sich Interessenten eintragen konnten. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich Bauwillige in der Regel in mehr als eine Interessentenliste eintragen, erscheint die getroffene Einschätzung eher überzogen.
    Diese Annahme wird durch die Beobachtung bestätigt, dass Anfang November, als die Bieterrunde zum Verkauf der Einfamilienhausgrundstücke abgeschlossen war, 6 dieser Grundstücke noch keinen Käufer gefunden hatten!
  2. Im April 2015 erschien die Bevölkerungs- und Haushaltsprognose 2030 von Frau Prof. Dr. Rohr-Zänker. Die Tatsache, dass die von ihr prognostizierten Bevölkerungszahlen heute deutlich (etwa 800) unter der tatsächlichen Einwohnerzahl liegen, ist die zweite Quelle, aus der ein enormer Baubedarf abgeleitet wird. Doch auch hier lohnt sich ein genauerer Blick. Die Datengrundlage für die Prognose umfasst die Einwohnerzahlen der Jahre 2010-2013, eine Zeit, in der in Wolfenbüttel keine umfangreichen Bauvorhaben verwirklicht wurden. In der Folge wurden jedoch große Baugebiete wie an der Salzdahlumer Straße, Über dem Okerufer und eine Reihe anderer erschlossen. Etwa 50% der Bewohner dieser Neubaugebiete stammen nicht aus Wolfenbüttel. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Wolfenbüttel deutlich mehr Einwohner gewonnen hat, als es die Prognose ohne Berücksichtigung der Neubaugebiete vorhergesagt hat.
  3. Die dritte Quelle: Aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (2015) zum Wohnungsbedarf in Deutschland, bei der für das gesamte Bundesgebiet ein jährlicher Bedarf von 430.000 Wohneinheiten ermittelt wurde folgert die Verwaltung, dass Wolfenbüttel sich mit 275 Wohneinheiten an dieser Herausforderung beteiligen muss. Diese Zahl ergibt sich, indem man den Gesamtbedarf durch die Einwohnerzahl Deutschlands teilt und mit der Anzahl an Wolfenbüttlern malnimmt. Dass dieser einfache Dreisatz eine Milchmädchenrechnung ist, zeigt sich spätestens, wenn man die obige Bedarfsanalyse etwas genauer betrachtet. Hier weisen die Kölner Forscher nämlich darauf hin, dass die Bautätigkeit häufig am Bedarf vorbei geht, in Ballungsgebieten wird zu wenig und in strukturschwächeren Bereichen zu viel gebaut (auch zu lesen in der Braunschweiger Zeitung, 25. April 2016). Für Wolfenbüttel wird ein jährlicher Bedarf von knapp über 100 Wohneinheiten angegeben, tatsächlich wurden 2014 jedoch 219 WE gebaut, mehr als das Doppelte vom ermittelten Bedarf also. Diese Studie sollte demzufolge besser nicht als Begründung für die hohe Bauaktivitätt in Wolfenbüttel herangezogen werden.

 Warum also dann dieser gebetsmühlenartig wiederholte Hinweis auf den riesigen Bedarf an Wohnraum in Wolfenbüttel. Darüber kann man nicht nur spekulieren. Herr Pink spricht davon, dass Wolfenbüttel das Wohnzimmer der Region sei und begrüßt jeden Neuzuzug – unabhängig davon, wie weit es die zukünftigen Einwohner als Berufspendler zum Arbeitsplatz haben werden. Ob es auch der Wunsch der Wolfenbüttler Bevölkerung ist, dass immer mehr Menschen ihre Stadt vorwiegend zum Schlafen nutzen, ist fraglich. Natürlich benötigt Wolfenbüttel eine stabile Einwohnerschaft, damit die Infrastruktur erhalten werden kann, aber ist das mit Wachstum um jeden Preis gleichzusetzen?

 

Unter den gegebenen Umständen erscheint es naheliegend, dass zwei weitere Aspekte insbesondere die Eile bei den derzeitigen Bauvorhaben bedingen. Zum einen könnten die Darlehenszinsen wieder steigen, so dass Bauen wieder unattraktiver wird, zum anderen planen Braunschweig und Wolfsburg, die beide tatsächlich einen großen Mangel an Wohnraum aufweisen, umfangreiche Maßnahmen, um mehr Wohnraum zu schaffen und Einwohner zu halten, so dass die Konkurrenz um Bauwillige größer wird. Dann hätte der „Zuzugsdruck“ wohl ein Ende.

 

Unter Berücksichtigung dieser Hintergründe zum Thema Wohnungsbedarf, dem erwarteten demographischen Wandel und der Tatsache, dass durch die Baugebiete an der Ottmerstraße, Am Rodeland und am Östlich Fallsteinsteinweg bei ca. 270 geplanten Wohneinheiten schon etwa 700 Menschen neu in den Nordosten von Wolfenbüttel ziehen werden, sollte man die Entscheidung, im ersten Bauabschnitt am Södeweg Wohnraum für weitere 1000 Menschen zu schaffen, noch einmal gründlich überdenken und auf jeden Fall zunächst die Auswirkungen der oben genannten Baugebiete abwarten.